Die Münchener Kunstausstellung 1892

"Zählt man ohne Rücksicht auf den Kunstwert alles zusammen, was in der deutschen Abteilung dieses Salons unter der Rubrik „Genre“ fallen konnte, so zeigte sich diesmal doch wieder eine leise Neigung zu jener pointirten Anekdotenmalerei, zum Süßlichen und Gefälligen, der die Neuerer nicht mit Unrecht so energisch entgegengetreten sind. Man kann dem deutschen Genrebild sicherlich ohne Schaden für die „neue Schule“ einen reicheren Inhalt wünschen, als dieselbe ihr im letzten Jahrzehnt zugestanden hat, aber diese rückläufige Richtung entspricht solchem Wunsch nur sehr dürftig. Sie ist weder im Sinne unserer Zeit national, noch aktuell. Unsere Genremaler sollten sich allgemach wieder der Thatsache bewusst werden, dass sie in ihren Bildern der Nachwelt Kultur- und Geistesgeschichte unserer Zeit überliefern können. Fast ängstlich wird von ihnen alles vermieden, was heute den Mittelpunkt aller Interessen bildet, die sozialen Ideen, welche der künftige Kulturhistoriker an die Spitze seiner Betrachtungen stellen wird, der stetig wachsende Kampf zwischen Kapital und Arbeit, die Umwälzungen, welche sich in unserm Gesellschaftsleben vorbereiten und zum Teil schon vollziehen, die Umwertung der auf das Verhältnis des Einzelnen zur Gesamtheit bezüglichen Anschauungen, das ganze, gewaltige Gebiet moderner Geistes- und Maschinenarbeit -  kurz alles das, was nach Zolas mächtigem Vorbild in unserer Litteratur mehr und mehr in den Vordergrund tritt. Ist doch aus unserer Genremalerei selbst die moderne Gesellschaftstracht noch immer so gut wie verbannt – an sich etwas rein Äußerliches, in Wahrheit aber etwas sehr Bedeutsames, denn mit dem Bannspruch über seine Hülle hat man eine Hauptklasse des „modernen Menschen“ selbst von der Malerei ausgeschlossen! Nur ganz vereinzelt finden sich Ausnahmen, vertreten durch Künstler, die sich dieser Aufgabe noch gar nicht recht bewusst sind…."

(Quelle: Meyer, Alfred Gotthold. Die Münchener Kunstausstellung. In Zeitschrift für bildende Kunst N.F. Band IV. 1892, S. 7)

 

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