Eine Hochschule für Musik

Eine Hochschule für Musik   

Eine Reiseerinnerung von O. Piltz  

( Hierzu das Bild „Quintettprobe“ auf S. 741.)  

Es ist greulich, auf diesem öden Bahnhof auf Anschluß warten zu müssen! Mit diesem trostlosen Gedanken ging ich ein Stück die nach dem Städtchen führende Allee entlang.

„Ach was“ dachte ich, „besiehst dir das Städtchen, bei der Hitze zwar auch kein Vergnügen, doch vergeht die Zeit.“

So schlenderte ich in kurzem die Hauptstraße des Orte entlang. Die Schaufenster waren der Sonne wegen dicht verhängt und in den Läden kein Käufer zu sehen. Nur am Ende der Straße, welche auf den Marktplatz mündet, verschwand eben der Polizeidiener mit einer Klingel in der Hand im Rathaus, und einige Gänse waren eifrig bemüht, das zwischen den Steinen wuchernde Gras auszurupfen.

Nachdem ich das Rathaus, ein altertümliches, respektables Gebäude umgangen, erblickte ich die Kirche mit breitem Turm davor; alte Bäume umgaben den Bau, einige Stufen führten auf diese grüne Oase.

So - nun hatte ich Schatten.

Langsam umschritt ich die Kirche, an welcher nichts Besonderes zu bemerken war und dachte, drinnen wird auch nichts Interessantes zu sehen sein.

Am Turm wieder angelangt, folgte ich meiner Passion, die Dinge aus der Vogelperspektive zu betrachten und erstieg die von außen angebaute überdachte Treppe, welche mich bald in das dunkle Innere führte. Nachdem ich die erste Etage erklommen, hörte ich runksende Laute, Baßtönen vergleichbar; hatte mich darin auch nicht geirrt.

Am Glockenstuhl fand ich zwei der Schule entwachsene Jungen Musikstudien treibend; der Baßstreicher hatte die Noten auf die große Glocke gelegt, der andere mit einer Trompete unter dem Arm stand daneben. Meiner Frage, ob die jungen Herren ihren Studien hier oben oblägen, damit die braven Bürger im Städtchen nicht im Nachmittagsschlaf gestört würden, wurde entgegnet: „Wir wohnen ja alle hier, das gesamte Stadtmusikkorps; wir üben meist hier, denn bei der Hitze zieht wenigstens etwas frische Luft durch die Schalllöcher.“

Auf dem folgende Boden traf ich wieder einige Burschen; einer reinigte seine Flöte, ein zweiter schrieb Noten; eine Kiste diente ihm als Tisch. So hatte ich allmählich die letzte Treppe erstiegen und befand mich auf einem kleinen Raum, in welchem die Thüren verschiedener Bodengelasse mündeten. Die Hauptthür führte, wie ich später bemerkte, in die Turmstube, eine andere zur Küche, die dritte stand offen und blendendes Licht drang herein; durch diese betrat ich die Galerie.

Vor mir lag die flache, fruchtbare Gegend, glänzend im Sonnenlicht, hie und da eine Ortschaft, den Horizont begrenzten bewaldete Höhenzüge, zu Füssen des Städtchen in schwüler Ruhe, zum Teil noch von einer Stadtmauer mit ruinenhaften Türmen umgeben.

Die Galerie umschreitend, begrüßte ich auf der anderen Seite wieder einen Musikeleven, auf dem Rand des Daches sitzend, die Füße gegen das eiserne Geländer gestemmt, ein riesiges Butterbrot verzehrend. Bald war ich mit dem mitteilsamen Lehrling im Gespräch.

Mit nicht wenig Stolz zeigte er mir in der Ferne seinen Geburtsort in dem er sagte: „wir stammen fast alle aus der Gegend, durch der Madam ihr Fernrohr können wir unsere Leute Kartoffeln hacken sehen. Wir haben es hier oben aber lange gut und sehnen uns nicht fort, ich bekomme ordentlich Heimweh nach dem alten Turm, wenn ich auf Urlaub zu Hause bin.

„Hier hat sich aber auch keiner zu beklagen; zu essen gibt es genug und wenn einer nicht gar zu dumm ist, lernt er auch etwas in der Musik. Das Geschäft ist schon 150 Jahre in derselben Familie und geht jetzt auf den Namen der alten Madam; ihr Mann ist lange tot, der Herr, der Enkel der Madam, ist unser Lehrer und Direktor und bekommt nach ihrem Tode die Stelle. Nur wollte ich, die Madam lebte noch lange, denn heiratet erst der Herr, so nimmt er eine Feine und die zieht nicht da herauf. Seitdem die Madam so stark geworden, hat sie den Turm nicht verlassen. Das können schon zehn Jahre sein, dass sie nicht heruntergekommen ist, trotzdem weiß sie alles, was in der Stadt passiert, besser als wenn sie unten wohnte.“

„Wie stark ist euer Korps?“ fragte ich dazwischen. „Wir sind einige zwanzig, die meisten wohnen hier im Turm; die Madam hat aber auch noch eine Stube in der Stadt, wo die älteren Burschen schlafen, wir anderen behelfen uns so gut wie es geht in den Kammern unter den Turmbalken. Zu unserem Dienst gehört auch die Nachtwache hier oben; im Sommer ist es ein wahrer Spaß, die Sonne hier oben aufgehen zu sehen und die Nachtigallen in Geheimrats Garten schlagen zu hören.“

Nun erhielt ich eine genaue Schilderung des ganzen Turmdienstes. Abwechselnd sei den einen Mittag etwas Lustiges, den folgenden ein Choral von der Galerie zu blasen; am Tage seien die Stunden nur nachzuschlagen, in der Nacht aber auch jede Viertelstunde mit einem Hörnchen zu melden. Im Winter sei es freilich oft schlimm, wenn sie bei schlechten Wegen weither von der Musik kämen und sich mit dem Baß durch den Schnee arbeiten müßten; dafür könnten sie dann auch bei den Soldaten etwas aushalten, Hautboisten wollten sie ja alle werden.

Durch den Ruf: „Karl, hole einmal Semmeln bei Meister Berbig,“ wurde mein freundlicher Erzähler abgerufen.

Währenddem hatte sich am Horizont ein Gewitter gebildet, entfernter Donner war schon hörbar.

So dachte ich beizeiten meinen Rückzug zu bewerkstelligen.

In den Turm eingetreten, umfing mich ein würziger Kaffeegeruch. In der kleinen Küche sah ich eine hübsche korpulente Frau am Herd beschäftigt; mein Gruß und einige Redensarten über den guten Kaffee welcher hier gekocht werde, wurden mit einer Einladung zum Mittrinken erwidert.

Vorläufig nahm ich die Einladung zum Eintritt in die Stube an. Hier hatte ich Gelegenheit, die Bekanntschaft der „Madam“ zu machen, einer würdigen alten Frau mit weißem Haar und sehr intelligentem Gesicht. Sie saß auf ihrem Lieblingsplatz am Fenster, von wo sie den Marktplatz übersehen konnte. Bald waren wir im Gespräch wie alte Bekannte, binnen kurzem hatte ich denselben Respekt vor Madamchen wie ihre braven Zöglinge.

Nachdem mir das Verantwortliche der amtlichen Stellung klargelegt, erhielt ich Andeutungen, wie mühevoll es sei, solche Jungen zu erziehen, resp. zu brauchbaren Musikern auszubilden. Als Resultate ihres Instituts zeigte sie mir an der gegenüberliegenden Zimmerwand eine Menge Photographien ihrer einstigen Schutzbefohlenen; lauter Militärmusiker, darunter eine Anzahl Kapellmeister.

Die ganze Gesellschaft gruppierte sich um einen Ahnherrn der musikalischen Familie, ein Pastell in Biedermeierkostüm mit einer Flöte in der Hand.

Das näherkommende Gewitter, welches sich durch heftigen Donner äußerte, mahnte mich zum Aufbruch. Mir wurde aber bedeutet, dass ich, ohne naß zu werden, wohl nicht zu Bahn kommen könnte, außerdem hätte ich noch eine volle Stunde Zeit; ich solle mich nur wieder setzen und mit Kaffee trinken. Das Gewitter brauche ich nicht zu fürchten: „Wir stehen überall in Gottes Hand,“ sagte das Madamchen, außerdem wäre auch ein Blitzableiter angebracht. Vor Jahren habe sie, ebenso wie jetzt, am Fenster gesessen, da sei mit fürchterlichem Schlag eine feurige Kugel durch das Zimmer geflogen. Der Schrecken hätte sie so gelähmt, dass sie gar nicht gewusst, wie nahe die Gefahr gewesen. Der Blitz wäre durch die Wand am Klingelzug hinuntergefahren, schweflichen Geruch zurücklassend.

Diese Erzählung illustrierte ein heftiger Donner, und gleich darauf prasselte starker Regen an die Fenster.

Indessen war eine Anzahl junger Leute stillschweigend eingetreten, mit ihnen die die Wirtschaft führende Tochter mit zwei riesigen Kaffeekannen in den Händen.

Es war ein eigentümlicher Anblick, die Lehrlinge am Ofen zusammengedrängt stehen zu sehen, keiner lispelte aus Furcht vor dem Gewitter. Die Hausfrau reichte zuerst ihrer Mutter den Kaffee hin, darauf mir eine Sonntagstasse mit Vergißmeinnichtkranz bemalt. Dann bekam jeder der anwesenden Burschen sein Töpfchen gefüllt, dazu eine riesige Butterstolle, mit welcher sie einzeln hinaustrotteten. Die freundliche Wirtin setzte sich nun zu uns an den Tisch, und die Unterhaltung kam wieder in Fluß. Es wurde bedauert, dass ich Wilhelm, so hieß der Musikdirektor, nicht kennen lerne; er sei in der Stadt, das Gewitter hindere ihn wohl, heimzukommen.

Da es nun Zeit war, ans Fortgehen zu denken, zumal der Regen nachgelassen hatte, verabschiedete ich mich.

Eben schlug es drei, und ich konnte noch sehen, wie einer der Knaben hereinkam und flugs einen Ring, welcher am Fußboden angebracht war, ergriff, denselben dreimal in die Höhe zog und dadurch den Hammer an der großen Glocke anschlagen ließ.

Dumpfe Luft empfing mich auf den alten Treppen beim Abstieg, um so angenehmer die erquickende Luft im Freien.

Das Bild auf dem Marktplatz hatte sich ganz verändert; nach der bänglichen Schwüle war heiteres Leben erwacht. Die Kinder und Gänse planschten in den Pfützen herum, die Leute waren  an die Thüren getreten und sahen dem abziehenden Gewitter mit frohen Gesichtern nach. Eben trat die Sonne wieder durch die Wolken und hoch vom Turm klangen feierlich in die reine Luft die ersten Töne des Chorals „Nun danket alle Gott.“

Mächtig davon ergriffen frug ich einen vorübergehenden Mann: „Geschieht dies nach jedem Gewitter?“

„Jawohl!“ war die Antwort, „nach jedem, auch in der Nacht.“

„Das ist ein schöner Brauch!“

„Ja, Herr, das hat schon mancher Fremde gesagt,“ erwiderte er mit berechtigtem Stolz beim Weitergehen.

Bald saß ich im Eisenbahnwagen mit dem angenehmen Gefühl einiger gut verbrachten Stunden. Noch hatte ich einen Blick auf den alten Turm und dachte: „Ob wohl das zukünftige Madamchen nicht auf den Turm geht? - Ich will es nicht wünschen.“

(Quelle: "Daheim" 1890 No. 47, S. 740 ff.)

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