„Glückliche Umstände haben uns aber über die Fotos des Konservators Dr. Bickel hinaus drei Gemälde aus den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts übermittelt, die das Kircheninnere und die Gemeinde zu unterschiedlichen Handlungen zum Gegenstand haben. Sie stammen von dem Maler Otto Piltz, der sich als Figurenmaler einen Namen gemacht hat. Er gehörte zur Weimarer Künstlerschule, deren Direktor ab 1854 Stanislaus Graf Kalckreuth war, der mit dem Maler Friedrich Preller dem Jüngeren mit Vorliebe die Erhabenheit der Rhöhlandschft darstellte und dort in Kleinsassen zu Füßen der Milseburg eine Art Künstlerkolonie schuf, die von Arnold Böcklin, der ab 1858 Lehrer an der Weimarer Akademie war, Otto Piltz und anderen aufgesucht wurde.

Im Jahre 1882 [1879] brachten die Maler Fritz Klingelhöfer und Wilhelm Ritter mehere befreundete Weimarer Maler, darunter den inzwischen zum Professor ernannten Otto Piltz nach Marburg mit, der sich in Cappel niederließ. Piltz hatte bis dahin Szenen seiner thüringischen Heimat gemalt; nun entstanden im Laufe der nächsten drei Jahre eine Reihe hervorragender Bilder aus dem Cappeler Leben, die vor allem Vorgänge in der alten Cappeler Kirche betrafen: Kindtaufe in der Cappeler Kirche, Männer auf der Empore und Frauen beim Vaterunser. Das letztgenannte Bild wurde bereits im jahre 1883 in einem Pariser Kunstsalon gezeigt, wo es einen hervorragenden Rang einnahm. Die hessischen Bilder von Otto Piltz wurden durch den Berliner Kunsthändler Lepke fast alle nach Amerika verkauft, so dass bei den Abbildungen unsers Bandes auf Reproduktionen zurückgegriffen werden musste.

Die oben genannten drei Bilder vermitteln uns eine eindrucksvolle Vorstellung vom Inneren der alten Cappeler Kirche. Zeigt da Foto des Konservators Dr. Bickel das Kircheninnere nüchtern und leer, so ist es auf den Bildern von Otto Piltz durch die dargestellten Personengruppen „belebt“. Man schaut in ds schöne alte Holzwerk, das die Kirche ausfüllt: unten die Bänke mit Seitentüren zum Gang und barockisierender Bemalung bäuerlicher Art und auf kräftigen vieleckigen Holzstützen die Emporen unterschiedlicher Form und verschiedenen Alters. Holzknaggen an den Querhölzern dienten zum Aufhängen der vielgestalten Hüte. An, über und unter den Emporen waren in Gruppen Totenkränze aufgehängt. Wir erkennen daraus, dass esauch in Cappel – wie in vielen Gegenden des Hessenlandes, besonders in Oberhessen – Brauch war, den ledig Verstorbenen (Burschen und Mädchen) Totenkränze oder Totenkronen als Tugendzeichen auf den Sarg oder das Grab zu legen und nach der Trauerfeier in der Kirche aufzuhängen. Sie stellten nicht nur die stete Verbindung zwischen den Hinterbliebenen und ihren früh Verstorbenen her, sondern verliehen den Dorfkirchen ein besonders malerisches Aussehen.

In diesen den Raum gestaltenden Rahmen sind die Personengruppen hineingestellt. Auf der Empore, der „Männerbühne“, die der Predigt lauschenden Männer, fast alle in sonntägliches Schwarz gekleidet. Unter ihnen, an den Spieltisch der Orgel angelehnt der Organist und Schulmeister Becker, der durch Jahrzehnte hindurch die heranwachsenden Generationen zu Fleiß und Frömmigkeit angehalten hat. Das Taufbild zeigt im Mittelgang des Schiffes die Hebamme oder Gothe, die den Täufling trägt, hinter ihr die Kindesmutter, über dem üblichen Stülpchen den weißen gestärkten Schleier mit dem Brautkranz gefolgt von dem Ehemann und Kindesvater. In den Bänken links und rechts alte und junge Zuschauer weiblichen Geschlechts, oben auf der Männerbühne die interessierte männliche Jugend, die wieder durch Kantor Becker unter Aufsicht gehalten wird. Das letzte Bild zeigt die stehend betenden Frauen während des Vaterunsers. Fromme andacht ruht auf den Mienen der Frauen, dazu aber ein besorgter Blick auf kleines Mädchen, das schon aus der Bank auf den Mittelgang getreten ist und mit dem Finger im Mund sich mit der anderen Hand an der Tür zur Bank festhält. So kündet dieses Bild von der hohen Beobachtungsgabe des Malers und atmet die gottesfürchtige Stille und Andacht der Stunde. Es dürfte wenig Gemeinden landauf – landab geben, die einen solchen Reichtum künstlerischer Darstellung ihres Kirchengebäudes und ihres kirchlichen Lebens aufweisen können.

Leider gehört dies alles der Vergangenheit an. Die Bilder sind nach Amerika gewandert und die Kirche selbst mit ihrem bemerkenswerten Inneren steht nicht mehr. Die Klagen über ihre Enge waren alt, Fotos und Gemälde stellen uns dies ebenfalls eindringlich vor Augen und der Ruf nach einer größeren Kirche konnte auf die Dauer nicht ungehört verhallen. Die Gemeinde war schließlich auf rund 850 Seelen angewachsen, als man im Jahre 1896 einen Neubau der Kirche unter Einbeziehung des spätgotischen Chores und der Wiederbenutzung des Dachreiters genehmigte.“

(Quelle: “Die evangeliche Kirchengemeinde Cappel” von Küther, Waldemar in Cappel. Ein Marburger Hausdorf. Bearbeitet von Waldemar Küther, Giessen 1976, S. 254 ff.)  

 

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